Staatskanzler a. D. Dr. Renner: „Ich stimme mit Ja.“Einer unserer Mitarbeiter hatte gestern Gelegenheit, den gewesenen Staatskanzler Dr. Karl Renner zur bevorstehenden Volksabstimmung zu befragen. Dieser beantwortete die an ihn gerichteten Fragen folgendermaßen: „Sind Sie, Herr Staatskanzler, bereit, über Ihre Stellung zur Volksabstimmung sich zu äußern?“ „Ich habe als erster Kanzler Deutschösterreichs am 12. November 1918 in der Nationalversammlung den Antrag gestellt und zur nahezu einstimmigen Annahme gebracht. ‚Deutschösterreich ist ein Bestandteil der Deutschen Republik.‘ Ich habe als Präsident der Friedensverhandlungen zu St. Germain durch viele Monate um den Anschluß gerungen — die Not im Lande und die feindliche Besetzung der Grenzen haben die Nationalversammlung und so auch mich genötigt, der Demütigung des Friedensvertrages und dem bedingten Anschlußverbot uns zu unterwerfen. Trotzdem habe ich seit 1919 in zahllosen Schriften und ungezählten Versammlungen im Lande und im Reiche den Kampf um den Anschluß weitergeführt. Obschon nicht mit jenen Methoden, zu denen ich mich bekenne, errungen, ist der Anschluß nunmehr doch vollzogen, ist geschichtliche Tatsache, und diese betrachte ich als wahrhafte Genugtuung für die Demütigungen von 1918 und 1919, für St.-Germain und Versailles. Ich müßte meine ganze Vergangenheit als theoretischer Vorkämpfer des Selbstbestimmungsrechtes der Nationen wie als deutschösterreichischer Staatsmann verleugnen, wenn ich die große geschichtliche Tat des Wiederzusammenschlusses der deutschen Nation nicht freudigen Herzens begrüßte.“ „Dazu bemerke ich: Schon in
der ersten Sitzung der provisorischen Nationalversammlung wurde die
Alternative gestellt: Wir sind bereit mit den befreiten Donauvölkern
über eine Verbindung zu verhandeln — wollen diese eine solche nicht oder
nur unter Bedingungen, die wider unsre Ehre sind, so wollen wir zum
Reiche zurückkehren. Die unmittelbare auf die so gestellte Alternative
gaben die Nachbarn durch die gewaltsame Besetzung deutscher Gebiete
und durch die Untergrabung unserer Wirtschaftsgeltung.
Oesterreich gab am 12. November 1918 die würdige Antwort, indem es den
Anschluß verkündete. Das zweitemal wurde diese Alternative weniger von
Oesterreich aus, als von den Großmächten aufgeworfen. Die Idee der
sogenannten Donauraumpolitik wurde nach dem Friedensschluß
vielfach erörtert. Sie sollte Oesterreich eine neue wirtschaftliche
Zukunft und den Ausweg aus der erstickenden Beengtheit des
Zollabschlusses eröffnen, um uns so den nationalen Verzicht durch
wirtschaftliche Vorteile erträglicher zu machen. Der Bedrängte
verschmäht seinen möglichen Ausweg. In seiner wirtschaftlichen
Verkümmerung und bei seiner außenpolitischen Machtlosigkeit hat das Land
solche Vorschläge gewiß mit Interesse verfolgt. Allein durch nahezu
zwanzig Jahre hat man mit dieser Idee bloß gespielt und nicht einen
einzigen positiven Schritt zu ihrer Verwirklichung getan, ja man hat sie
zum Schluß durch lächerliche legitimistische Treibereien absurd
gestaltet, so daß auch der wärmste Freund der Donauraumpolitik von
dieser zweiten Alternative sich abkehren mußte. „Ich habe keinen Auftrag, für die letzteren zu sprechen, kann aber erklären: Als Sozialdemokrat und somit als Verfechter des Selbstbestimmungsrechtes der Nationen, als erster Kanzler der Republik Deutschösterreich und als gewesener Präsident ihrer Friedensdelegation zu St.-Germain werde ich mit Ja stimmen.“ Quelle:
„Neues Wiener Tagblatt“, Nr. 92, Wien: Sonntag, 3. April 1938 |
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